Zum Inhalt springen
Fotostrecke

Rätselhafte Neutrinos: Schneller als das Licht?

Foto: INFN

Neutrinos schneller als das Licht Physiker rätseln über rasende Teilchen

Es wäre eine Sensation, die ein Kernstück der Relativitätstheorie in Frage stellen würde. Schweizer Forscher haben Elementarteilchen aufgespürt, die schneller sind als das Licht - was nach Einsteins These unmöglich sein soll. Allerdings trauen die Wissenschaftler ihren eigenen Ergebnissen nicht.

Genf/Hamburg - Schneller zu fliegen als das Licht? Das kann nicht funktionieren. So jedenfalls lehrt es uns die Physik. Dort setzt Einsteins Relativitätstheorie eine eherne Grenze bei knapp 300.000 Kilometern pro Sekunde. Höhere Geschwindigkeiten wurden bisher nicht nachgewiesen. Doch jetzt wankt dieses Grundgesetz der Natur. Bestimmte Elementarteilchen, sogenannte Neutrinos , scheinen die magische Marke zu ignorieren.

Wissenschaftler des internationalen "Opera"-Projekts berichten von entsprechenden Messungen. Sollten sich diese bestätigen, wäre das eine Sensation, die die moderne Physik erschüttern könnten. Allerdings wollen die Forscher ihren Daten selbst nicht wirklich trauen. Sie veröffentlichen die Untersuchung , damit andere Wissenschaftler die Versuche ebenfalls durchführen - und vielleicht mögliche Fehler finden.

Die "Opera"-Wissenschaftler haben die Ergebnisse von Experimenten am Teilchenforschungszentrum Cern bei Genf analysiert. Im dortigen gigantischen Teilchenbeschleuniger wurde ein Strahl von Neutrinos erzeugt. Die sehr leichten und elektrisch neutralen Elementarteilchen reisten 732 Kilometer durch die Erde bis zu einem Labor bei Gran Sasso in Italien. Für die Reise benötigten die Teilchen etwa 2,4 Millisekunden.

Eigentlich wollen die Forscher so die Umwandlung sogenannter Muon-Neutrinos in einen anderen Typ - Tau-Neutrinos - beobachten. Doch die Messungen brachten noch etwas ganz anderes zutage: Die Teilchen brauchten 60 Nanosekunden weniger als das Licht für die Strecke. Da die Messung auf zehn Nanosekunden genau erfolgt und die Forscher 15.000 Neutrinos mit einem entsprechenden Effekt beobachteten, scheint das Ergebnis klar: Neutrinos knacken die Lichtgeschwindigkeit.

Das würde Einsteins spezieller Relativitätstheorie widersprechen. Die auch Laien durch die Gleichung E=mc2 bekannte Theorie postuliert unter anderem, dass die Lichtgeschwindigkeit von der Bewegung eines Systems unabhängig ist, es sich also um eine Naturkonstante handelt. Zudem nimmt die Masse eines Körpers mit seiner Geschwindigkeit zu. Bei Lichtgeschwindigkeit würde sie unendlich groß werden. Daher gilt sie als oberste Grenze.

Entsprechend groß ist jetzt die Aufregung. "Das Ergebnis ist eine totale Überraschung", sagt Antonio Ereditato vom "Opera"-Experiment, der an der Universität Bern forscht. Monatelang überprüften die Forscher die Daten, konnten aber keinen Fehler finden, der die Daten erklären würde.

"Wenn sich diese Messungen bestätigen, könnte das unsere Auffassung von der Physik ändern", sagt der wissenschaftliche Leiter des Cern, Sergio Bertolucci. "Aber wir müssen sicher sein, dass es keine andere, profane Erklärung dafür gibt. Das erfordert unabhängige Experimente." Tatsächlich zweifeln viele Physiker, dass sich das Ergebnis bestätigen lässt. "Das Gefühl bei den meisten ist, dass das nicht stimmen kann", sagt selbst ein Sprecher des Cern.

Fermilab-Forscher in den Startlöchern

Andere Forschergruppen sind jetzt aufgefordert, die Daten genau zu studieren oder das Experiment zu wiederholen. Letzteres ist allerdings nur an zwei Teilchenbeschleunigern möglich: an einer japanischen Anlage, die seit dem Erdbeben vom 11. März nicht arbeitet, und am US-amerikanischen Fermilab, wo die Neutrinos von Chicago nach Minnesota geschickt werden.

Das Fermilab bereitet sich bereits auf das Experiment vor. "Das ist so wichtig, dass die sonst üblichen wissenschaftlichen Rivalitäten beiseitegeschoben werden", sagt Wissenschaftler Rob Plunkett. Der Physiker meint, er gehe offen an die Frage heran, ob das Cern oder Einstein recht habe. "Aber es ist gefährlich, gegen Einstein zu wetten." Denn seine Theorien seien wieder und wieder auf die Probe gestellt worden.

Alfons Weber von der University of Oxford und dem Rutherford Appleton Laboratory meint allerdings, dass man sich bis zur Wiederholung der Experimente etwas gedulden müsse. "Es wird voraussichtlich Jahre in Anspruch nehmen, die Messungen mit der Genauigkeit des 'Opera'-Experiments an anderer Stelle durchzuführen", sagt der Forscher, der sich gerade am Fermilab aufhält. Weber ist Mitglied der japanischen "T2K"- und der US-amerikanischen "Minos"-Collaboration, die die Messungen wiederholen werden. Die Wissenschaftler arbeiten nun daran, ihre Experimente entsprechend umzustellen, um Ungenauigkeiten beim Messen zu minimieren.

Beim "Minos"-Experiment hatten die Forscher bereits vor vier Jahren gemessen, dass sich Neutrinos etwas schneller als das Licht bewegen. Aber die Ungenauigkeit der Messung war zu groß, um dies mit Sicherheit sagen zu können.

Physiker Brian Greene von der Columbia University sieht den neuen Experimenten gespannt entgegen. "Wir wären begeistert, wenn es sich als richtig herausstellt. Wir lieben Ergebnisse, die die Grundfesten dessen erschüttern, was wir für wahr halten."

Warum die Neutrinos schneller als das Licht fliegen könnten, lässt theoretische Physiker bereits jetzt grübeln. Stephen Parke vom Fermilab meint etwa, sie könnten eine Abkürzung durch eine andere Dimension nehmen. Antonio Ereditato vom "Opera"-Experiment, von dem die Daten stammen, ist deutlich vorsichtiger. Die möglichen Auswirkungen auf die Physik seien zu groß, um sofort Schlussfolgerungen zu ziehen oder mögliche Erklärungen zu liefern. "Meine erste Reaktion: Neutrinos verblüffen uns noch immer mit Geheimnissen."

wbr/AP
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.